Strafprozeßrecht

- Abschlußklausur (SS 2002) -

 

Der maskierte A betritt eine Bank, bedroht die Passantin P mit einer Pistole und zerrt sie vor den Bankschalter. Unter der Drohung, P zu erschießen, verlangt er von dem Bankangestellten B die Herausgabe des Kassenbestandes der Bank. Aus Sorge um P übergibt B dem A 125.000 Euro.  A geht mit dem Geld aus der Bank. Als er merkt, daß einige Passanten ihn verfolgen, flüchtet er in ein Mietshaus. Kurz darauf trifft die Polizei ein. Polizeihauptkommissar H ordnet unverzüglich die Durchsuchung aller 10 Wohnungen des Hauses an und läßt einen Sperrbereich rund um das Gebäude errichten. Die Durchsuchung bleibt erfolglos. An einem Kontrollpunkt außerhalb des Gebäudes wird A jedoch gestellt.

 

1. M, ein Bewohner des Mietshauses, fühlt sich in seinen Rechten verletzt. Er fragt Sie als Anwalt, ob die Anordnung der Durchsuchung rechtmäßig war.

 

2. Kaum ist A festgenommen, überlegt er, daß er sich, wie er meint, „bestmöglich“ verteidigen wolle. Wenn es nach ihm ginge, würde er, so sagt er, „mindestens 5 Verteidiger“ beauftragen. Geht das? Was spricht für, was gegen eine Beschränkung der Verteidigerzahl?

 

3. Die Staatsanwaltschaft leitet gegenüber A ein Ermittlungsverfahren ein. Die Ermittlungen zeigen sich aufgrund sich widersprechender Zeugenaussagen schwieriger als erwartet. Daher hält es Staatsanwalt S für erforderlich, den Zeugen Z unter Eid zu vernehmen. Läßt sich das durchführen? Welche Gründe können generell die Einschaltung eines Ermittlungsrichters erforderlich machen?

 

4. Was halten Sie unter verfassungsrechtlichen und strafprozessualen Aspekten vom Einsatz von „Lügendetektoren“ im Prozeß?

 

5. Nach dem in der Anklageschrift formulierten wesentlichen Ergebnis der Ermittlungen steht A im Verdacht, Taten nach den §§ 239a, 253, 255, 250 Nr.1 StGB begangen zu haben. Bei welchem Gericht wird die Staatsanwaltschaft den Antrag stellen, das Hauptverfahren zu eröffnen und die Anklage zuzulassen?

 

6. Mit der Anklageerhebung beginnt das Zwischenverfahren. Welchen Zweck verfolgt dieses Verfahren, und welche Bedenken können generell dagegen vorgebracht werden?

 

7. Mit dem Aufruf zur Sache beginnt die Hauptverhandlung. Die Beweisaufnahme erweist sich als schwierig. Zeuge Z, auf den sich die Staatsanwaltschaft im wesentlichen stützt, ist krank und kann in der Hauptverhandlung nicht anwesend sein. Der Vorsitzende Richter liest daher das Protokoll der Vernehmung durch den Ermittlungsrichter vor. Geht das? Dürfen auch Protokolle von Vernehmungen vor der Staatsanwaltschaft und der Polizei verlesen werden?

 

8. A’s Fall hat großes Aufsehen in der kleinen Stadt erregt. Alle wollen an der Verhandlung teilnehmen. Das Gericht hatte daraufhin das Verfahren in die Mehrzweckhalle, die dann auch voll besetzt war, verlegt. Der Verteidiger rügt mit der Revision die übergroße Öffentlichkeit. Wird er damit Erfolg haben?

 

 

 

 

STRAFPROZESSRECHT

Hinweise zur Lösung der Abschlußklausur

 

1. Grundsätzlich richtet sich die Rechtmäßigkeit der Anordnung von Durchsuchungen bei Personen, die nicht tat- oder teilnahmeverdächtig sind, nach § 103 StPO. Vorliegend war Durchsuchungsgegenstand allerdings ein ganzes Gebäude, so dass die Durchsuchungsanordnung den besonderen Voraussetzungen des 103 I 2 StPO genügen muß (Korrekturhinweis: Die Mehrheit der Bearbeiter hat die Anwendbarkeit des § 103 I 2 StPO  übersehen und die Prüfung der Rechtmäßigkeit der Anordnung anhand § 103 I 1 StPO vorgenommen. Derartige Fehler lassen sich durch eine vollständige Lektüre der einschlägigen Vorschriften vermeiden!). Eine Durchsuchung gemäß § 103 I 2 StPO erfordert einen dringenden Tatverdacht nach § 129 a StGB oder einer der dort bezeichneten Straftaten. Hier kommt erpresserischer Menschenraub in der Tatvariante des „sich bemächtigen“ gem. § 239 a StGB in Betracht. Ferner erfolgte die Durchsuchung zum Zwecke der Ergreifung und aufgrund von aus der Bevölkerung festgestellten Tatsachen; damit sind hier auch die  übrigen Tatbestandsvoraussetzungen des § 103 I 2 StPO erfüllt (vgl. Kleinknecht/Meyer-Goßner, 45. Aufl., München 2001, § 103, Rn. 10-14). Zuständig für die Anordnung der Durchsuchung ist gem. § 105 I 2 StPO im Fall des § 130 I 2 StPO jedoch nur der Richter bzw. bei  Gefahr im Verzug die Staatsanwaltschaft; ein Polizeibeamter darf diese Zwangsmaßnahme nicht anordnen. Die Durchsuchungsanordnung durch den Polizeihauptkommissar H war daher nicht rechtmäßig.

 

2.  Gemäß § 137 I S. 2 StPO darf die Zahl der Verteidiger drei nicht übersteigen. Diese Beschränkung steht nach BverfGE 39, 156 mit dem GG in Einklang. Durch die Begrenzung der Verteidigeranzahl soll verhindert werden, dass der Beschuldigte sein Recht auf mehrere Verteidiger zum Zweck der Prozeßverschleppung mißbraucht. Damit dient die Regelung der Sicherung des Verfahrensablaufs und der Aufrechterhaltung einer funktionstüchtigen Strafrechtspflege, wie sie das Gebot des Rechtsstaatsprinzips erfordert. Gegen die Beschränkung könnte der Gedanke einer Optimierung der Verteidigung bzw. das in Art. 6 I 1 EMRK niedergelegte und als Verfassungsprinzip geltende Recht des betroffenen Beschuldigten auf ein faires Verfahren sprechen (vgl. dazu Kühne, Strafprozeßrecht, Ein Lehrbuch zum deutschen und europäischen Strafverfahrensrecht, 5. Auflage, Heidelberg 1999, § 15 Rn. 288; Schroeder, Strafprozeßrecht, 3. Auflage, München 2001, § 6 Rn. 54-56) . Nach dem BVerfG wird diesem Anspruch jedoch mit drei Wahlverteidigern selbst in Verfahren mit besonderem Umfang, außergewöhnlicher Verfahrenslänge und überlanger Verfahrensdauer genüge getan. § 137 I 2 StPO bringe  das schutzwürdige Interesse des Beschuldigten an umfassender Verteidigung mit dem öffentlichen Interesse an der Gewährleistung einer wirksamen Strafrechtspflege zu einem angemessenen Ausgleich.

 

3. Nach § 162 StPO kann der Staatsanwalt eine richterliche Vernehmung beantragen, wenn der Zeuge unter Eid vernommen werden soll. Die Vereidigung im Ermittlungsverfahren richtet sich nach § 65 StPO. Eine Vereidigung kommt hier nach Nr. 2 dieser Vorschrift  in Betracht, da der Eid der Herbeiführung einer wahren Aussage dienen soll.

Die Einschaltung eines Ermittlungsrichters ist zur Vermeidung von Beweisverlusten und bei Grundrechtseingriffen im Zusammenhang mit strafprozessualen Zwangsmaßnahmen vonnöten (vgl. dazu Beulke, Strafprozeßrecht, 6. Aufl., Heidelberg 2002, Rn. 316-317). Überdies darf der Richter bei Gefahr im Verzug ohne Antrag nach § 162 StPO Untersuchungshandlungen vornehmen, wenn ein Staatsanwalt nicht erreichbar ist.

 

4. Die Frage nach der Verwendbarkeit von Lügendetektoren wird verfassungsrechtlich nach wie vor kontrovers beurteilt. In der Rechtssprechung hat sich mit der Entscheidung BGH St 44, 308, ein Meinungswandel vollzogen. Der BGH geht nunmehr davon aus, dass die freiwillige Mitwirkung des Beschuldigten weder gegen Verfassungsgrundsätze noch gegen § 136 a StPO verstoße. Allerdings handele es sich um ein derzeit noch absolut untaugliches Beweismittel, so dass ein entsprechender Beweisantrag nach § 244 III S. 1 StPO zurückzuweisen sei. Kühne, a.a.O., § 54 Rn. 903, macht zutreffend darauf aufmerksam, dass sich bei einer Verbesserung der Erkenntnismöglichkeiten doch wieder die Frage eines Verstoßes gegen die Menschenwürde stelle. Das BVerfG verneint einen Anspruch des Beschuldigten auf Verwendung eines Polygraphentests als Beweismittel im Strafverfahren (BVerfG NStZ 1998, 523). Grundsätzlich seien die Fachgerichte im Rahmen der Strafprozeßordnung zur Beschränkung von Beweismitteln befugt. Nach Art. 103 Abs. 1 GG bestehe kein Anspruch auf ein bestimmtes Beweismittel (vgl. auch BVerfGE 57, 250; 63, 45).

 

5. Die Staatsanwaltschaft wird im Hinblick auf die Höhe der zu erwartenden Strafe nach § 24 I Nr. 2, 3, § 74 I S. 2 GVG beantragen, das Hauptverfahren vor dem Landgericht, und zwar vor der Großen Strafkammer (vgl. § 76 I GVG) zu eröffnen.

 

6. Das Zwischenverfahren soll gewährleisten, dass nur wohl begründetet Anklagen vor Gericht kommen und dient damit dem Schutz des Angeklagten vor einer ungerechtfertigten Hauptverhandlung (vgl. Schroeder, a.a.O.., § 22 Rn. 182-184; Beulke, a.a.O., § 18 Rn. 352) . Es ist also traditionell aus einem gewissen Mißtrauen gegen die Staatsanwaltschaft gespeist, für das eigentlich keine Grundlage (mehr) besteht. Teilweise wird das Verfahren daher als Anachronismus betrachtet, zumal seine Kontrollfunktion als gering eingeschätzt wird. Es kommt hinzu, das dieses Verfahren insofern an einem Geburtsfehler leidet, als das eröffnende Gericht –bis auf die Schöffen- mit dem erkennenden Gericht identisch ist und so bei dem Angeklagten möglicherweise der Eindruck entsteht, das Gericht sei voreingenommen und habe sich vorzeitig auf seine Schuld festgelegt  (vgl. auch Kühne, a.a.O., § 36 Rn. 622).

 

7. Die Verlesung der Niederschrift über die frühere richterliche Vernehmung ist hier nach § 251 I Nr. 2 StPO erlaubt. Vorausgesetzt wird, dass der Zeuge für längere oder ungewisse Zeit krank ist (Kleinknecht/Meyer-Goßner, a.a.O., § 251 Rn. 6, § 223 I Rn. 7). Die Niederschrift einer nichtrichterlichen Vernehmung kann unter den Voraussetzungen des Abs.2 verlesen werden, d.h. Staatsanwalt, Verteidiger und Angeklagter müssen damit einverstanden sein.

 

8.  Der Verteidiger wird mit seiner Verfahrensrüge keinen Erfolg haben, die „übergroße“ Öffentlichkeit ist kein revisibler Verfahrensverstoß (Korrekturhinweis: Gefragt war hier nach den Erfolgsaussichten der Revision. Die Bearbeiter gingen darauf jedoch häufig nicht ein, sondern machten überlange, wenig frageorientierte Ausführungen zu der Öffentlichkeitsmaxime im Sinne des § 169 GVG). Ein Fall des § 338 Nr. 6 StPO liegt nicht vor, diese Vorschrift ist nur bei unzulässiger Beschränkung der Öffentlichkeit anwendbar. Der Erweiterung der Öffentlichkeit über den Gerichtssaal hinaus kommt nach dem BGH nicht die überragende Bedeutung für die gesetzliche Strafrechtspflege zu wie einer Beschränkung (BGHSt 36, 119, 122; Kleinknecht/Meyer-Goßner, 45. Aufl., München 2001, § 338 Rn. 47). In Betracht kommt eventuell § 338 Nr. 8 StPO. Die Öffentlichkeitserweiterung stellt im vorliegenden Fall jedoch wohl keine unzulässige Beschränkung der Verteidigung „in einem für die Entscheidung wesentlichen Punkt“ dar (vgl. Beulke, a.a.O., § 29 Rn. 566). Der überwiegend speziell im Zusammenhang mit § 338 Nr. 8 StPO geforderte konkret-kausale Zusammenhang zwischen Verfahrensfehler und Sachentscheidung ist hier zweifelhaft (vgl. allgemein zum Grundsatz der Öffentlichkeit Jung, in: Gedächtnisschrift für Hilde Kaufmann, 1986, S. 891, 903; Kleinknecht/Meyer-Goßner, a.a.O., § 338 Rn. 59; Schroeder, a.a.O., § 32 Rn 320). Auch ein relativer Revisionsgrund im Sinne des § 337 StPO ist mangels „Beruhen“ des Urteils auf der Gesetzesverletzung nicht gegeben, hier wäre ebenso ein ursächlicher Zusammenhang erforderlich (Kleinknecht/Meyer-Goßner, a.a.O., § 337 Rn. 37; Beulke, a.a.O., § 29 Rn. 565).